ZUM ZYKLUS „TONSPUREN“
Im Zyklus „Tonspuren“ beschäftigen mich einerseits die Spuren von Farbtönen, Farbtonwerten, Farbspuren, die sich je nach Auftragung oder Abwischen (Wahl des Werkzeugs - Lappen, Spachtel, Pinselbeschaffenheit, usw.) oder unterschiedlicher Zugabe von Verdünnungsmitteln ergeben, sowie Farbrhythmen, lauter und leiser werdende visuelle Farbklänge und Farbakkorde.
Anderseits sind für mich „Tonspuren“ auch Spuren , die beim Versuch entstehen, akustische Ereignisse wie Geräusche, Einzeltöne, Tonfolgen, Zusammenklänge, Harmonien oder Disharmonien, thematische Entwicklungen, Klangfarben, Takt, Tonalität, usw., die meine neuronalen Netze zu stimulieren vermögen, bildnerisch zu interpretieren - also Versuche, mit malerischen Mitteln auditive Empfindungen ins Visuelle zu transferieren. „Tonspuren“ sind nicht als „écriture automatique“, aus dem blossen Zufall heraus entstanden, sondern aus dem Zu-Fallen des Gehörten. Ist dies nun analog zum oft verpönten Begriff aus der Musik „Programmmusik“ „Programmmalerei“ ? In der Musik gibt es unzählige Beispiele für das umgekehrte Vorgehen, wo also Komponisten bildhaft Erlebtes, Vorgestelltes, Empfindungen, Literatur oder durch Literatur evozierte Bilder als Inspiration in ihrer Tonsprache verarbeiten ohne dabei Programm-Musik zu schreiben, die dem Hörer Anleitungen vorgibt, was zu hören sei (oder genauer gemäss Peter Petersen über Programmmusik: ...Die Hörer sind zu aktivem Mitvollzug aufgerufen, indem sie sich beim Hören der Musik an einen Text erinnern sollen, oder beim Lesen eines Programms sich die gehörte Musik vorstellen können). Der Begriff Programmmusik dürfte jedoch fliessend sein. In Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung“ sehe ich kein konkretes Bild von Samuel Goldenberg – ich höre eher etwas massig Grosses, in sich ruhendes Übermächtiges in Kontrast zum nervös, schmächtig, ängstlich, ohne geringstes Selbstvertrauen hoffendes und bettelndes Individuum Schmuyle. Die Musik empfinde ich hier nicht als Programm oder als platte Illustration, sondern eher als kreativ mögliche Aufdeckung von Wesentlichem, das unter der Oberfläche einer Begegnung zum Vorschein kommt. Oder – wie hat doch z.B. Schönberg im Auftragswerk in atonaler Musik ein faszinierendes Äquivalent für Girauds Gedichtzyklus „Pierrot Lunaire“ gefunden. Es scheint verständlich, wenn Beethoven („...mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“), Mahler, Richard Strauss, Schostakovitsch oder andere mehr sich mit Satzbezeichnungen schwertun, abändern oder lieber aus politischen Gründen ganz weglassen, vielleicht auch aus Furcht, dem Rezipienten könnten andere vielschichtige Einflüsse, Empfindungen oder den der Musik inne liegenden, eigengesetzlichen Entwicklungen aus lauter Fixierung auf Benanntes verborgen bleiben. Die Entwicklung einer poetischen Sprache oder eines Textes (ob literarisch, musikalisch, visuell gestaltend,...) basiert in keiner Weise nur auf einem Begriff, wie z. B. eine eben erwähnte Satzbezeichnung. |
Die historische Entwicklung der Sprache, das Verlangen des Schaffenden, in einer neuen Zeit neue, adäquate Ausdrucksmittel zu finden – seine Lebenssituation, seine Erlebnisse, Erfahrungen, Empfindungen, seine physische und psychische Disposition, das sozioökonomische und politische Umfeld – all dies kann nicht ausgeklammert werden. Auch der „reine Weg“ - das „nicht Mimetische“, auf nichts andere Verweisende, das „Non relational“, die konkrete Poesie oder Malerei usw. können auf eine Haltung, auf einen Zeitgeist, vielleicht auf eine weltverändernde, utopische Heilsversprechung oder mathematische Konzeption verweisen.
Was auch immer den ersten Impuls zum ersten Strich auf dem weissen Blatt und in der Folge zur spielerischen oder auch zweifelbeladenen, intensiven Weiterbearbeitung führt – ist es das „je ne cherche pas, je trouve“, ein blosses Feuern der Synapsen oder der Ausdruck von starken Erlebnissen? Ist es eine Wutreaktion, eine Revolution des Malewitsch, der mit seinem schwarzen Quadrat nur noch die reine Empfindung will, um dann im Spätwerk kaum mehr von einem Renaissance Maler zu unterscheiden ist? Manchmal ist sie einfach da – die erste Spur. Tonspuren kenne ich auch von den visuellen Umsetzungen von Schallereignissen am Rande des analogen Lichttonfilmstreifens oder von digitalen Tonschnittprogrammen am Computer. Mit einem solchen Programm sprach ich das Wort „Tonspur“ in unterschiedlichen Tonhöhen, Betonungen und Tempi ins Mikrofon, betrachte seine grafische Dekodierung am Bildschirm, dehne die Zeitachse (Timeline) und male die sichtbar gewordenen Linien von Frequenz- und Amplitudenausschlägen in starker Vergrösserung aufs Blatt, verwische und übermale . Andere Tonspuren entstanden indem ich durch meinen CD-Player, auf Endlosschlaufe gestellt, ein Musikstück abspielen liess und hörte und lauschte und lauschte und hörte... bis ich die Farben, Pinsel oder Spachtel und den Rhythmus gefunden habe. In Analogie zu Debussys oft verwendeten Pentatonik und entsprechenden Tonschritten fertigte ich Zahnspachteln mit fünf Zähnen an, deren 4. Zahn gegenüber den andern die doppelte Breite hat. Der Analogieschluss war eigentlich banal, aber er setzte einen Prozess in Gang. Mit der Spachtel war ich gezwungen, schneller zu arbeiten, reagierte so spontaner auf das Musikerlebnis (wie in gewissen Bildern der Serie „PasseVite“ oder „courant d’air“ – das Kratzen in den schnelltrocknenden Industrielack). Schicht für Schicht entstanden Farbtonspuren, die infolge der Zähne, das darunter Liegende nur teilweise verdecken und für mich eine Art Klangraum ergeben. Bei einigen Musikwerken sammelte ich mehr Hintergrundinformationen (Entstehungsgeschichte der Komposition, Umfeld, Lebenssituation des Komponisten, usw.), was möglicherweise in die malerische Umsetzung des Gehörten hineinspielte. H.G. 2021 |